9. Juni - Motala/ Süd-Schweden - 100 km, 1000 hm - Teilnehmer-Bericht

Tjejvättern: Schwedinnen und Salzgurken

Von Sonja Rieg

Foto zu dem Text "Tjejvättern: Schwedinnen und Salzgurken"
der Start | Foto: pressBureau/ W. Preß

19.06.2012  |  Wer schon immer mal mit richtig vielen blonden Schwedinnen losziehen wollte, der ist beim Hobby-Rennen "Tjejvättern" genau richtig. Einziger Nachteil für alle Typen: Ihr dürft nicht mitfahren. Ist ein reines Mädels-Ding. Aber vielleicht geht's ja mit einer gründlichen Rasur und einer Pippi-Perücke? Probiert's mal - wenn ihr euch traut...

Eine recht männliche Statur
ist jedenfalls kein Hinderungsgrund. Da waren schon einige echte Wikingerinnen auf der Strecke unterwegs, kann ich euch sagen: locker einsfünfundachtzig groß, und mit Schultern und Oberschenkeln wie DDR-Schwimmerin Kristin Otto zu ihren besten Zeiten. Deswegen ist es vielleicht keine gute Idee, als Typ hier mitzufahren. Jedenfalls wenn man unter einsfünfundachtzig ist.

Bevor ihr gleich massenhaft Emails reinschickt, nun die Ehrenrettung der schwedischen Mädels: Natürlich sind beim Tjejvättern auch viele zarte, schlanke, hübsche, dunkelhaarige, nette, lustige Schwedinnen mitgefahren. So habe ich sie jedenfalls erlebt. Und auch die großen, blonden "Wikingerinnen" waren durchaus nicht zum Fürchten. Halt groß. Und muskulös. Das mag ja manche/r durchaus. Noggrann, wie die Schwedin da sagt: Genau.

Aber der Reihe nach.
Samstag, 9. Juni, 9 Uhr, Motala am Vättern-See, Süd-Schweden. Schon weit vor dem netten Hafen-Städtchen am viertgrößten See Europas (siebenmal so groß wie der Bodensee) fallen die zahlreichen Räder an und auf den Autos auf - die interessanterweise meist von Männern gesteuert werden. Daneben sitzen die Mädels oft schon in Renn-Montur, den Blick meditativ auf den Anfahrts-Plan auf ihrem Schoß gerichtet. Wenn ich das richtig beobachtet habe...

Von einem der zahlreichen Parkplätze rund ums Zentrum fahre ich wenige hundert Meter mit dem Renner zum Marktplatz. Neben der Nachmeldung und der Startnummern-Ausgabe ist hier ein riesiges Zelt mit Ständen der diversen Sponsoren aufgebaut, wo man zudem allerlei Rad-Zubehör kaufen kann.

Mein Glück,
denn ich brauche noch dringend eine Trinkflasche. Meinen schönen Eddy-Merckx-Bidon habe ich nach unserer letzten Trainingsrunde vorgestern auf dem Autodach stehen lassen. Offensichtlich hat ihn sich eine der frechen Vättern-Möven geschnappt, da ich ihn nicht mehr finden konnte;-)

A propos Vättern - ein kleiner Rückblick: Vor über 20 Jahren, genau 1991, wurde im Rahmen der "Vätternrundan" (des damals schon weltgrößten Rennens für Freizeitradler), eines der ersten Hobby-Radrennen nur für Damen unter dem schönen Namen "Tjejvättern", auf Deutsch ”Mädchen-Vättern” veranstaltet. Damals rollten 2250 Fahrerinnen über die 100-km-Strecke; heuer waren es wohl an die 9000.

Um so ein Rennen geordnet starten zu können, gibt es minutengenaue individuelle Start-Zeiten und -Gruppen, die aus drei Startblöcken auf die Strecke gehen. Ich bin in Gruppe 62 um 10 Uhr 02 dran. Wer noch Zeit + Nerven hat, kann sich im Startbereich das Rad durchchecken lassen; wer keine Nerven hat, geht nochmal pinkeln...

Unter offensichtlich witzigen Kommentaren
(das konnte ich mit meinen rudimentären Schwedisch-Kenntnissen nur aus dem Gelächter von Starterinnen und Zuschauern schließen) zweier Radio-Moderatoren geht unsere Gruppe aus gut 50 Mädels dann auf die Start-Gerade: "Tre, tva, ett, noll - Start!" Das habe sogar ich verstanden - los geht's.

Ein paar Mädels hauen sich gleich ordentlich in die Pedale, aber die meisten lassen's eher ruhig angehen. Immerhin sind einige mit Rädern unterwegs, die man sonst vielleicht für die Fahrt zum Bäcker, aber nicht gerade für ein Rennen nehmen würde: Etliche Naben-Schaltungen kann ich sehen, viele Damen-Räder mit tiefem Einstieg, und auch (volle!) Einkaufskörbe vorn und hinten - ungelogen, ich schwör's! Aber angekommen sind sie alle: Die Ausfall-Quote beim Tjejvättern ist legendär niedrig. Heuer waren es genau 17 Mädels - bei über 9000 Starterinnen!

Ich klemme mich bei einer Einachtzig-Wikingerin mit knallgelbem Renner ans Hinterrad. Nach ein paar Minuten merke ich, dass sie zwar in voller Renn-Montur, aber mit Turnschuhen unterwegs ist - auf Klick-Pedalen! Ich frage sie auf Englisch, ob sie ihre Rad-Schuhe vergessen hat? Nein, sie hat sich den Renner ihrer Schwester ausgeliehen, aber deren Schuhe passen ihr nicht. Immerhin die Klamotten, wie sie lachend meint. Noch nie sei sie ein Radrennen gefahren: "But this is real fun! I like it!"

Eine Zeitlang fährt die Turnschuh-Wikingerin
dann noch in meinem Schlepptau. Doch am ersten Hügel lässt sie reißen. Ich bleibe weiter in meinem Rhythmus, und überhole ständig. Das ist der Nachteil, wenn man sich spät anmeldet, und dann weit hinten startet: Ich finde einfach kein Hinterrad - die Schnellen sind alle weit vorne.

Dann werde ich das Ganze halt allein durchziehen. Aber jetzt fängt es auch noch zu regnen an. Muss das sein? Immerhin kommen wir gleich in eins dieser hübschen schwedischen Birken-Misch-Wäldchen, das uns leidlich vor dem Regen schützt. Und wenig später wartet auch schon die erste Verpflegungs-Station, nach gerade mal 30 km, unter den Bäumen eines Grundschul-Pausenhofs.

Es gibt Tee, Kaffee, Kanelbulle (schwedische Zimtschnecken - lecker!), kalte Blaubeer-Suppe aus dem Pappbecher, Bananen - und Salzgurken!
Das habe ich bei einem Rennen auch noch nie gesehen. Soll gut für den Mineral-Haushalt sein, sagt mir die nette Helferin an der Tee-Ausgabe nebenan, als sie meinen skeptischen Blick bemerkt. Ich probiere - und bin begeistert, vor allem in der Kombi mit der Zimtschnecke... Dann hört der Regen fast auf, kaum dass ich meine Salzgurke verdückt habe. Ich schütte den restlichen Kaffee hinunter, und springe aufs Rad.

Mein Überhol-Marathon
geht weiter. Nächstes Jahr melde ich mich schon im November an, um ganz vorn dabei zu sein, und um eine nette, schnelle Gruppe zu finden. Zwar hängen sich zwischendurch immer wieder mal zwei oder drei Mädels an mein Hinterrad. Wenn ich dann aber aus dem Wind gehe, um den anderen die Führung zu überlassen, sinkt das Tempo meist drastisch. Also bleibe ich vorn. Aber irgendwann verlieren die Mitfahrerinnen dann offensichtlich die Lust, und lassen sich zurückfallen.

So geht es mir einige Male, und ich beschließe, einfach meinen Stiefel zu fahren: Ich gucke nicht mehr, wer mitfährt. Plötzlich ein Regenguß wie aus Eimern. Eben hat doch noch die Sonne gescheint! Seltsam, wie bei uns im April - dabei ist doch schon Juni. Innerhalb von Minuten bin ich durchnäßt, und kein Unterstand ist in Sicht. Nicht nur ich fluche vor mich hin. "Skräpväder" ist das, lerne ich von einer Leidensgenossin, Mistwetter.

Gottseidank ist der Schauer so schnell vorbei, wie er gekommen ist. Die Sonne bricht wieder durch die Wolken - und nun merkt man doch, dass Sommer ist. Die Wärme und der Fahrtwind trocknen meine Klamotten in Windeseile.

Nun kommt der einzige ernsthafte Anstieg
der Strecke, gut drei Kilometer lang, aber deutlich unter zehn Prozent steil. Wir landen schließlich auf einer Hügel-Kette, und haben nun eine großartige Sicht auf den riesigen Vättern-See. Die Sonne scheint, der Wind wird schwächer. Immer wieder leuchten die typisch dunkelrot gestrichenen Häuschen und Höfe aus den Mischwäldern hervor. Das hat schon was ganz Spezielles, hier in Süd-Schweden.

Nach knapp 60 km dann die nächste Verpflegung. Ich fülle meine Flasche mit einem Elektrolyt-Drink aus einem großen Tank, schnappe mir eine Salzgurke (glaube, ich bin schon abhängig;-), und fahre kauend weiter. Am Service-Stand herrscht Andrang: So manches Rad ist längere Ausflüge nicht gewohnt, und manchmal fehlt wohl auch die rechte Einstellung - vor allem an Schaltung und Bremsen. Oder es fehlt einfach nur Luft; den Reifen, nicht den Teilnehmerinnen. Letzteren erst wieder später...

Meine Zwischen-Bilanz: Zwei Drittel der Strecke sind geschafft, und hunderte Fahrerinnen überholt. Je weiter ich nach vorne fahre, umso höher wird die gefahrene Geschwindigkeit, ist mein Eindruck. Trotzdem komme ich in keine Gruppe. Bei einigen fahre ich eine Zeitlang mit, auch vorne. Aber kaum steigt der Kurs auch nur leicht an, werden viele Mädels gleich deutlich langsamer. Schade...

Also wieder allein weiter.
Hab mich eh' schon dran gewöhnt. An der letzten Verpflegung, im hübschen Barock-Städtchen Skänninge, genehmige ich mir noch eine Blaubeer-Suppe. Wie an den anderen Stationen auch, haben sich hier viele Angehörige eingefunden, um ihre "Helden" anzufeuern.

Selbst mitten an der Strecke stehen immer wieder kleine Grüppchen, die mit Tröten, Ratschen, Transparenten und Fahnen für Stimmung sorgen. Und das bei einer reinen Freizeit-Veranstaltung, die eher eine Ausfahrt als ein echtes Rennen ist. Toll, echt! Das motiviert wirklich!

Schließlich geht's die Hügel hinunter Richtung See, zurück nach Motala, zum Ziel. Hier ist die Strecke vollständig abgesperrt; immer mehr Zuschauer säumen die Gasse für die Radsportlerinnen. Dann hört man wieder die beiden Radio-Moderatorinnen, die nun ins Ziel gewechselt sind.

Geschafft!
Drei eher füllige Mädels neben mir fallen sich gleich nach der Ziellinie jauchzend in die Arme. Eine von ihnen hat deutliches Übergewicht, und alle Drei waren wohl noch nie hundert Kilometer auf dem Rad unterwegs. Ich will sie danach fragen, aber dann sehe ich, wie sie verstohlen einige Tränen verdücken, und lasse sie lieber ihr Glück genießen.

An alle Mädels, die sonst wohl eher weniger sportlich unterwegs sind, und die diese hundert Kilometer geschafft haben, geht hier ausdrücklich mein voller Respekt.
Das ist bestimmt ein Drittel, oder gar die Hälfte der Fahrerinnen - wenn ich mir mal in Erinnerung rufe, was für Räder ich unterwegs gesehen habe.

Kurz hinter der riesigen, aufgeblasenen Ziel-Durchfahrt warten dann drei Fotografen, und bannen jede Finisherin aufs Bild - wenig später abzurufen auf der Netzseite der "Vätternrundan". Und zehn Meter weiter gibt's noch eine bronzene Medaille dazu.

Im "Folketshus", im Rathaus oberhalb des Ziels hole ich mir dann meine "Finisher-Paella" und ein "Lettöl", ein Leicht-Bier. Ich setze mich zu den hunderten anderer Radlerinnen auf die Wiesen am Vättern-See, und lausche dem coolen Reggae-Sound eines DJs auf der Bühne. Irgendwie sehen alle hier zwar oft erschöpft, aber immer glücklich aus: Gut geradelt, nette Musik, ein kühles Getränk, die Sonne scheint, der See glitzert... Was will man mehr?

Ich komme jedenfalls wieder.
Habe ich soeben beschlossen. Mal sehen, ob ich nächstes Jahr "meine" Gruppe finde. Rechtzeitig anmelden werde ich mich. Noggrann, genau. Wann geht's nochmal los?

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