Teil 2 des Interviews

Jairo Chaves: “Die Zukunft unserer Jungs liegt in Europa“

Von Tom Mustroph

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Jairo Chaves | Foto: Mustroph

17.12.2018  |  (rsn) - Jairo Chaves bezeichnet sich selbst als “frustrierten Radsportler“, weil er in seiner Jugend sein Talent nicht auf dem Rad ausleben konnte. Dafür aber hat er hat seinen Sohn Esteban entdeckt und entwickelt. In der Fundacion Esteban Chaves fördert er Jahr für Jahr weitere Talente. Sein zweiter Sohn Brayan ist inzwischen bei der U23-Abteilung von Mitchelton Scott untergekommen. Jairo Chaves sprach in einem großen Interview mit Radsport News, das wir in zwei Teilen veröffentlichen, über die Bedeutung von Radsport in Kolumbien, das Nachwuchssystem und die Entwicklung seiner Söhne. Esteban, der nach längerer Krankheit im Frühjahr wieder zurückkommt in den Rennbetrieb, traut er sogar “zwei, drei Toursiege“ zu. Brayan, ein eher kompletter Fahrer, hat sogar noch bessere Werte als der Bruder zuvor im gleichen Alter.

Teil 2 des Interviews

Mit Brayan haben Sie einen zweiten Sohn im Radsport. Hat er das gleiche Talent? Oder ist er ganz anders als Esteban?
Chaves: Brayan ist anders. Er ist ein kompletter Fahrer, ist gut in allem. Esteban hingegen ist der geborene Kletterer. Brayan ist eher wie Valverde. Er kann auf allen Terrains gut sein, auch bei den Klassikern.

Stop, Esteban hat auch schon ein Monument gewonnen...
Chaves: Ja, aber das war eine der härtesten Lombardei-Rundfahrten der Geschichte, es war ein Kurs für Kletterer. Wir sagen zu unseren Jungen immer: Jeder schreibt seine eigene Geschichte, Esteban, und Brayan auch. Er ist Brayan, nicht nur der Bruder von Esteban. Es ist natürlich schwer, der Bruder von einem großen Fahrer zu sein. Weil man immer verglichen wird. Ich sage ihm aber, bleib ruhig, bleib du, gehe deinen eigenen Weg.

Es gibt aktuell einige Brüderpaare im Radsport: die Yates-Zwillinge, die Quintana-Brüder, auch die Izagirres, und jetzt die Chaves'. Verglichen mit den Yates', die als Zwillinge ungefähr das gleiche Niveau haben und den Quintanas, die doch sehr unterschiedlich sind: Wo sehen Sie da im Vergleich Ihre beiden Söhne?
Chaves: Das ist schwer zu vergleichen. Esteban und Brayan sind sieben Jahre auseinander. Als Esteban schon in der WorldTour fuhr, saß Brayan noch nicht mal auf dem Rad. Die Yates sind Zwillinge, die Quintanas zwei Jahre auseinander. Wenn man allerdings von Brayan die Daten nimmt und die von Esteban, als er so alt war wie Brayan, dann hat Brayan die besseren Werte. Allerdings entwickelt sich auch der Radsport insgesamt. Man wird in sieben Jahren sehen, was in Brayan steckt, was er zu leisten vermag. Er hat schon jetzt, abgesehen vom Sieg bei der Tour de l'Avenir, den Esteban 2011 holte, mehr geschafft als Esteban in seinem Alter. Er war mehr im Ausland, hat mehr Erfahrungen gesammelt. Aber sein Weg ist nicht leicht. Es hat sich für ihn eine Tür geöffnet, und nun muss er seinen Weg weiter gehen.

Wie schwer fällt jungen kolumbianischen Radsportlern überhaupt der Weg nach Europa? Hat sich da etwas verbessert, weil eben schon viele diesen Weg gegangen sind oder ist es noch immer wie früher?
Chaves: Es ist schon schwer. Denn für Kolumbianer sind Familie und Freunde wichtig, auch das Klima, die soziale Wärme. Für einen 20-Jährigen ist es doch so, dass die Mutter noch das Frühstück macht, die Sachen wäscht und er mit seinen Freunden unterwegs ist. In Europa ist er aber allein. Jetzt wächst allerdings eine Generation heran, für die es leichter wird. In unserer Fundacion Esteban Chaves bereiten wir die Jungen auch darauf vor. Wir bereiten sie mental vor. Und wir haben auch einen Englischlehrer, der bei den Rennen im Auto sitzt und mit ihnen auf englisch redet. Es gibt mit Egan Bernal, mit Rigoberto Uran, mit Fernando Gaviria schon einige Kolumbianer, die Fremdsprachen sprechen. Das ist für die Karriere wichtig. Die Jungen eifern ihnen nach. Und wir helfen ihnen.

Wie wichtig ist in Kolumbien Radsport – nicht nur als Sport, sondern auch als Mittel zum sozialen Aufstieg?
Chaves: Die Bedeutung ist enorm. Du kannst durch den Sport dein Leben ändern. Schauen Sie mich an: Mein Sohn ist Radsportler und ich brauche nicht mehr zu arbeiten. Ich habe eine Stiftung, bilde Kinder und Jugendliche aus, reise viel nach Europa. Mit dem Geld, das du als Radprofi verdienst, kannst du dein Leben ändern und das deiner Familie auch. Jetzt träumt jeder davon, es Nairo, Rigo, Gaviria und Esteban nachzumachen.

Wie gut ist das Nachwuchssystem aufgebaut? Wieviele Kids stehen in den Startlöchern?
Chaves: Als wir die Anmeldung für unsere beiden Teams in den Altersgruppen 15-16 und 17-18 Jahre freigegeben hatten, meldeten sich 400 Jungs. 400 Jungs für 18 Plätze! Wir haben sie uns angeguckt und die besten ausgewählt. Unter den 400 waren etwa fünf, die ungefähr das Potenzial eines Nairo Quintana haben.

Fünf potenzielle Nairomen nur in einem Klub, enorm! Wieviele von denen kommen dann aber durch?
Chaves: Natürlich, es braucht Disziplin und Ausdauer, um dabeizubleiben. Aber die Talente hier sind einfach so zahlreich. Es gibt genetische Vorteile, die Gewöhnung an die Höhe. Esteban ist nicht einmal ein ganz typischer kolumbianischer Radsportler. Er ist nicht Sohn eines Bauern. Er kommt aus der Stadt. Unsere ganze Familie besteht aus Städtern. Aber er hat die Gene, die gut sind für den Radsport. Und es gibt so viele talentierte Burschen mehr hier. Sie sind wie Juwele, du musst sie nur polieren, ihnen ein Rad und gut zu essen geben und sie etwas trainieren. Dann kommt die Klasse schon durch. Wir haben ein Nachwuchsrennen hier, die Vuelta del Futuro, das ist für die 15-, 16-Jährigen. Da kommen 120, 130 Kids aus allen Landesteilen. Und beim Rennen für die 17-, 18-Jährigen kommen 230 Burschen. Der Verband hat das sogar regulieren müssen und die Teilnehmerzahl begrenzt. Sonst wären es zu viele. In früheren Jahren waren da 500 am Start, ein Wahnsinn!

Diese vielen Konkurrenten zum einen, der Wunsch, den Sprung nach Europa zu schaffen und damit die Familie auf ein höheres soziales Niveau zu bringen – produziert das alles nicht einen enormen Druck bereits für die Teenager?
Chaves: Es ist im Leben so wie im Sport. Du kannst gewinnen oder verlieren. Auch als Arzt kannst du ein richtig guter sein oder eben nur mittelmäßig. Wenn du eine Firma gründest, dann kann das gut gehen oder auch nicht. Du hast keine Sicherheit. Du kannst es nur versuchen, und daran wachsen, auch an den Rückschlägen. Der Misserfolg ist ein Teil des Ganzen. Von 200 Profis, die bei einer Tour de France antreten, kann auch nur einer gewinnen, die anderen nicht. So ist das.

Wegen der sozialen Aufstiegsmöglichkeiten steigt sicher auch die Versuchung, es im Radsport mit Doping zu versuchen. Wie gehen Sie als Betreuer von Nachwuchsfahrern das Problem an?
Chaves: Es ist ein Problem, das stimmt. Aber in Kolumbien gibt es jetzt auch mehr Kontrollen. Das ist wichtig. Es gibt aber auch eine neue Generation, für die es nicht so wichtig ist, in Kolumbien selbst zu jedem Preis zu gewinnen. Sie wollen nach Europa, und in Europa Rennen gewinnen. Hier kann man viele Sachen machen, in Europa geht das aber nicht. Die neue Generation versteht das. Die Jungs wollen nicht in bestimmte Teams, weil sie denken, dass sie dann stigmatisiert sind. Sie wissen, ihre Zukunft liegt in Europa. Dort sind die Sponsoren, die großen Teams. Die neue Generation wächst mit der Mentalität auf, sauber nach Europa zu kommen. Wir reden darüber mit den Jungs, auch über Armstrong und dessen Generation. Für die neue Generation ist es normal, nichts zu nehmen. Auch aus dem kolumbianischen Radsport verschwinden so langsam die alten Figuren.

Bei all den vielen kolumbianischen Talenten: Wieso gibt es eigentlich kein eigenes Team in der WorldTour?
Chaves: Der Grund ist ganz einfach: Es ist das Geld. Für ein gutes Team brauchst du etwa 15 Millionen Euro, umgerechnet in Pesos ist das enorm. Dazu kommt: Die großen Fahrer, die wir haben, kosten viel Geld. Sie sind auch mit Verträgen an andere Rennställe gebunden. Wir haben ein ProContinental-Team, Manzana Postobon. Die machen gute Arbeit, die bringen die nächsten jungen Fahrer heraus. Momentan haben wir sechs, sieben kolumbianische Profis, die Kapitäne sind in ihren Teams. Das hatten wir noch nie! Kolumbianer waren sonst meist Helfer. Jetzt sind sie die Chefs. Für Kolumbien ist es gut, wenn sie in unterschiedlichen Teams sind und um die Siege kämpfen können, anstatt nur in einem Team zu sein.

Zum Teil 1 des Interviews

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